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0.2 Zukunft und Technologie

Watson, übernehmen Sie!

Wir haben uns längst daran gewöhnt: Computer werden immer schneller. Aber jetzt werden sie auch immer intelligenter. Die neuesten Vertreter der künstlichen Intelligenz lernen eigenständig, analysieren das Erlernte und ziehen ihre eigenen Schlüsse daraus. Der derzeit schlaueste Rechner ist Watson von IBM.

Für IBM ist Watson, benannt nach dem Firmengründer Thomas J. Watson, eine „Grand Challenge“. Dahinter verbirgt sich ein Projekt, das zuallererst einen wissenschaftlichen und keinen wirtschaftlichen Nutzen hat. Ungewöhnlich bei einem börsennotierten und gewinnorientierten Unternehmen. Aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass gerade solche Projekte langfristig die Forschung voranbringen und sich auch in bare Münze umwandeln lassen. Das IBM-Programm, das 1971 die Analyse des Mondgesteins der Apollo-Mission übernahm, war die erste „große Herausforderung“, die in den folgenden Jahren unzählige Entwicklungen und Weiterentwicklungen in der IT ermöglichte. Watson hat allerdings bereits nach kurzer Zeit gezeigt, dass er viel mehr als nur ein Forschungsprojekt ist. Inzwischen betreuen 2.000 Wissenschaftler mit einem Etat von einer Milliarde Dollar die Weiterentwicklung des intelligenten Computersystems. 

Mensch gegen Maschine

Was macht Watson so besonders? Sein Vorläufermodell Deep Blue rückte zum ersten Mal die Fähigkeiten intelligenter Computersysteme in den Blick der Öffentlichkeit. 1997 ereignete sich das Unglaubliche: Ein Computer besiegte den amtierenden Schachweltmeister Garry Kasparov – danach hat nie wieder ein Mensch gegen eine Maschine gewonnen. Dabei war Deep Blue nach heutigem Verständnis eigentlich noch gar nicht intelligent, sondern einfach nur sehr schnell. Er konnte 200 Millionen Schachzüge in der Sekunde analysieren. Die Fähigkeiten von Watson gehen weit darüber hinaus. Und auch dieses System trat mit einem Paukenschlag in die Öffentlichkeit. Mit der Antwort „Wer ist Tolstoi?“ gewann Watson 2011 die bekannte US-Quizshow Jeopardy gegen zwei menschliche Superhirne. Sein Wissen dazu bezog er aus rund 200 Millionen Seiten in Lexika, Wikipedia und Sachbüchern. Auf dieser Grundlage, die 13 Terabyte groß war, konnte er in drei Sekunden eine Frage beantworten. 

Mit Computern sprechen

Genau diese Tatsache ist das wirklich Besondere an Watson: Er kann Fragen beantworten. Er ist ein sogenanntes kognitives Computerprogramm, mit dem man sich ganz normal unterhalten kann – und zwar derzeit in 21 Sprachen, wobei er nicht alle gleich gut beherrscht. Englisch ist die Muttersprache, Deutsch spricht er auch schon ganz gut und gerade lernt er Japanisch. Letztendlich machen drei Merkmale Watson so besonders. Erstens: die Verarbeitung der natürlichen Sprache, aufgrund deren er sich selbst unstrukturierte Daten – also Bücher, Aufsätze, Statistiken oder Internetseiten – aneignen kann. Gleichzeitig ermöglicht dies eine einfache Mensch-Maschinen-Interaktion. Des Weiteren kann Watson auf Basis des erlernten Wissens eigenständig Hypothesen erzeugen, gewichten und bewerten. Und drittens: Er beherrscht das evidenzbasierte Lernen. Das heißt: Er wird auf Basis des Erlernten und jeder Interaktion intelligenter.

Superhirn in der Hosentasche

Natürlich ist auch die Hardware von Watson höchst beeindruckend. Das Kernsystem ist ein Ethernet aus einem geclusterten Rechenverbund bestehend aus 90 IBM-Power-750-Servern. Dieser Verbund bietet 16 Terabyte RAM und ermöglicht eine Rechengeschwindigkeit von rund 80 Teraflops. Damit können 500 Gigabyte, was etwa einer Million Bücher entspricht, pro Sekunde verarbeitet werden. Das ist natürlich weit entfernt von den derzeitigen Supercomputern wie etwa der Tianhe-2 mit 33,86 Petaflops pro Sekunde. Aber: Watson kann die Daten nicht nur verarbeiten, sondern gleichzeitig aus ihnen lernen. In 15 Sekunden kann er die Symptome von rund einer Million Krebspatienten vergleichen, zehn Millionen Finanzberichte und 100 Millionen Produkthandbücher lesen. Seine Fähigkeit, extrem große Datenmengen zu erfassen und auszuwerten, macht ihn damit auch zu einem extrem leistungsfähigen Big-Data-System. Und noch etwas macht Watson besonders: Er ist kein abgeschlossenes System, sondern cloudbasiert. Dadurch können externe Anwender selbst Watson-basierte Anwendungen entwickeln, die auf autonomen Geräten laufen. 2011 hatten die dafür erforderlichen Geräte noch die Größe eines Wohnzimmers. Heute sind sie so groß wie ein Schuhkarton – und bald werden sie wohl in die Hosentasche passen.

Der bessere Arzt

Das Forschungslabor hat Watson längst hinter sich gelassen. Er glänzt in vielen unterschiedlichen Arbeitswelten mit praktischen Anwendungen. Vor allem in der Medizin ermöglicht er derzeit bahnbrechende Entwicklungen. Im onkologischen Bereich gilt „Dr. Watson“ weltweit als der beste diagnostische Arzt. Verschiedene Krebskliniken in den USA und in Kanada setzen auf seine Expertise. Innerhalb von Minuten kann er Diagnosen und Behandlungsempfehlungen erstellen, für die selbst erfahrene Ärzte bisher Wochen brauchen. In 14 renommierten Krebskliniken „leitet“ der Computer die individuelle – auf die jeweilige DNA – abgestimmte Therapie. Dieses Verfahren ist bei verschiedenen Krebsarten sehr erfolgreich und gilt auch bei anderen Erkrankungen als Medizin der Zukunft. Allerdings ist sie auch extrem aufwendig, da allein ein menschliches Gen mehr als 100 Gigabyte Daten liefert. Für die individuelle Therapie greift Watson auf aktuelle Befunde, Krankenakten, Tumorregister mit biologischen Daten, alle vorhandenen Studien, Artikel und Fachaufsätze sowie die Daten von Millionen anderer Krebspatienten zu. Eine Informationsflut, die ein menschlicher Arzt nie überblicken, geschweige denn sich aneignen könnte. Aber ohne „Studium“ kann auch Watson nicht loslegen. So wurde er etwa im Memorial Sloan Kettering Cancer Center monatelang von Chef- und Oberärzten trainiert, bevor er erfolgreich Diagnosen stellte. Die Klinik in New York gilt als eine der weltweit besten Krebskliniken.

Nicht das Ende der Welt

Auch in anderen Bereichen und Branchen spielt Watson bereits seine Stärken aus. Zum Beispiel als Bankberater: So kann Watson basierend auf einer umfassenden Marktanalyse sowie den Bedürfnissen und Erfahrungen der Kunden passgenaue Produkte anbieten – das könnte aber genauso gut ein Krankenkassenwahltarif sein. Die neuen Möglichkeiten und Fähigkeiten von Watson sorgen aber nicht nur für Euphorie, sondern wecken auch moderne Ängste. Die Gefahr, dass Watson zu Skynet mutiert und der Menschheit wie in „Terminator“ den Krieg erklärt, ist gering – auch wenn bekannte Leute wie etwa der Physiker Stephen Hawking oder der Internet- und Elektroautopionier Elon Musk davor warnen. Es stimmt: Maschinen sind längst schneller und intelligenter, als es ein Mensch je sein könnte. Im Schach können wir sie nicht mehr schlagen, aber wir können mit ihrer Hilfe deutlich besser Schach spielen. Wie etwa der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen. Seit seinem elften Lebensjahr spielt und trainiert er fast ausschließlich mit einem intelligenten Schachcomputer.